Warum Opfer von Gewalt und Missbrauch ihre Täter verteidigen

Vergangene Woche sorgte die Geschichte “Tennisvater ohrfeigt Tochter blutig und sie verteidigt ihn” für Furore. Man hört Ähnliches immer wieder – von Missbrauchsopfern, die sich selbst eher als Auserwählte empfinden, denn als Opfer, oder vom Stockholmsyndrom, bei dem Opfer ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Auch Natascha Kampusch sagte, sie habe Verständnis für ihren Peiniger . Im Interview erklärt Diplom-Psychologin Esther Flemming, weshalb das ein überlebenswichtiger Mechanismus der menschlichen Psyche sein kann.

Sonja Vukovic: Ein Vater schlägt seine 16-jährige Tochter blutig, nachdem diese ein Tennis-Match gegen eine Russin verloren hatte. Die Tochter verteidigte die Tat des Vaters mit der Begründung, sie habe die Prügel verdient. So etwas hört man öfter, dass Kinder ihre gewalttätigen Eltern verteidigen. Warum?

Esther Flemming: Kleine Kinder empfinden sich als Teil der Eltern – auch körperlich. Mutter und Vater sind sozusagen eine erweitertes Selbst, nicht abgegrenzt, sondern zugehörig. Das ist psychologisch auch richtig, denn ohne Eltern würden Kinder ja verhungern. Sie sind existenziell abhängig und können ohne sie nicht überleben. Das macht es dem Kind aber schwer, sich selbst einzugestehen, dass die Eltern ihm auf andere Weise nicht gut tun – geschweige denn, sich von ihnen abzuwenden.

Vukovic: Die Kinder verstehen also lieber die Taten der Eltern, als sie dafür zu hassen?

Flemming: Ja. Und wenn sie schon früh in dieses Verhalten gedrängt werden, dann legen sie das oft auch in einem späteren Alter nicht ab. Die Gruppe, also die Familie, ist mehr wert als der Einzelne. Es gibt Kulturen, in denen ist es auch völlig normal, dass dieses Phänomen bis ins Erwachsenenalter wirkt.

Vukovic: Die Tennisspielerin wird von ihrem Vater auch trainiert. Ich muss gestehen, ich kenne in meinem privaten Umfeld ein ähnliches Phänomen. Auch da scheint es, als könne die Tochter – ebenfalls Tennisspielerin – ihren Vater nicht hassen, der ihr wohl schadet. Woher kommt das?

Flemming: Hier hat nicht stattgefunden, was bei normalen Familien passiert. Dass die Kinder ab dem sechsten Lebensjahr in die Gesellschaft gehen. Sie gehen in die Schule und lösen sich so im Laufe der nächsten Jahre von den Eltern ab. Das ist auch ein Prozess, der wehtut. Wenn das Kind zu Beginn der Pubertät, also zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr feststellt: Oh, Papa ist doch nicht Gott. Manche Kinder beginnen in dieser Phase, ihre Eltern beim Vornamen zu nennen. Sie erkennen: Papa ist nicht Gott und nicht ich, sondern einfach ein normaler Mensch wie andere auch. Im Fall dieses Tennisstars hat dieser Prozess nicht stattgefunden. Die Familie ist Gesellschaft. Es kann Eltern nicht als normale Menschen anerkennen. Papa bleibt Gott.
In archaischen Kulturen schickt man Mädchen, wenn sie ihre Tage bekommen, in den Busch. So unterbrechen sie die körperliche Abhängigkeit und lösen die Enge zur Familie auf. Dieser Prozess ist wichtig, damit Kinder den Eltern auf Augenhöhe begegnen, ihnen in die Augen sehen und sagen können: Das will ich nicht!

Vukovic: Als damals die Missbrauchsskandale im Rahmen der katholischen Kirche durch die Medien gingen, las ich einen Artikel, in dem ein österreichischer Schriftsteller, der als Kind Opfer pädophiler Priester gewesen war, erklärte, es gäbe auch positive Seiten an seinem Missbrauch. Er betonte, die Einzigartigkeit und Stärke, die er als „Auserwählter“ empfunden habe. Bei mir dachte ich: Wow, es ist wohl menschlich, dass man lieber den Täter versteht und sich als etwas Besonderes empfindet, als sich einzugestehen, dass man Opfer ist. Vielleicht wäre das zu schmerzhaft?

Flemming: Ja, genau so ist es. Man muss ja auch beachten, dass im Falle von Kindesmissbrauch ganz ungewöhnliche Konkurrenzverhältnisse aufgebaut werden. In den Klosterschulen war es die Konkurrenz zwischen Gleichaltrigen. Denn das Opfer wird ja auch mit viel Aufmerksamkeit und Liebesbekundungen bedacht, der Täter sagt vielleicht zu ihm: Du bist meine kleine Prinzessin, oder mein Prinz (so steht es auch in dem oben erwähnten Statement des Schriftstellers/ Anm. d. Red.). In Familien steht ein Mädchen, das die sexuelle Aufmerksamkeit des Vaters bekommt, plötzlich in Konkurrenz zur Mutter. Es wird auf vielen Ebenen die natürliche Bindung zu sich selbst, zur Gruppe, und zur Familie gestört. Das macht es den Opfern auch so schwer, sich zu öffnen. Die Situation ist erst einmal eine verklärte, wenn bewusst wird, welcher Rattenschwanz als Konsequenz daran hängt, sich als Opfer zu betrachten und Hilfe zu suchen, dann wirbelt das eine Welt, in der man sich irgendwie bislang zurecht gefunden hat, wieder gänzlich durcheinander. Das macht Angst und unter Umständen einsam. Ich hatte mal ein siebenjähriges Mädchen in der Therapie, die von ihrem Vater schwer misshandelt worden war und auf Grund der Misshandlungen in einem sogenannten „Schutzhaus“ wohnte, die saß da auf ihrem Stuhl, sah mich an und meinte: „Gell, wenn ich nichts gesagt hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier, sondern zuhause!“

Vukovic: Als Außenstehender – was kann man machen? Versuchen, dazwischen zu gehen?

Flemming: Man kann ein Gegengewicht bilden. Nicht reingehen, nicht gewaltvoll auseinanderbrechen, sondern andere Dinge anbieten, die helfen können, sich zu lösen. Dinge, die angenehm und reizvoll sind.
Bildung zum Beispiel, das ist dabei das Wichtigste, damit die Kinder Zeit bekommen, nachzudenken, neue Sachen zu lernen, sich mit Gleichaltrigen zu umgeben. Bei jungen Erwachsenen kann ein Freund oder eine Freundin die Bindung, die man innerhalb der Familie trotz aller Verletzungen zu verlieren fürchtet, ersetzen. Viele Opfer haben nie gelernt, einsam zu sein. Dieses Thema ist mit Affekten bis hin zur blanken Panik besetzt.

Vukovic: Und als Betroffene/r? Was kann man tun, um es aus diesem Teufelskreis zu schaffen?

Flemming: Zunächst einmal muss man bereit sein, zu trauern. Wirklich bereit werden, den Schmerz darüber, dass man nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurde, sondern im Gegenteil auf der Verliererseite, zulassen lernen. Es erfordert Mut, sich selbst als Opfer zu sehen, als eine Person, die so gar nicht zu den tollen Menschen, die in unserer Gesellschaft propagiert werden, zu gehören.
Gerade Jugendliche glauben ja, cool sein käme daher, keine Schmerzen zu empfinden, sondern alles, auch Demütigungen, hinnehmen zu können und danach noch super auszusehen und fröhlich zu sein. Darum ist es wichtig, Opfer zu stärken und ihnen in ihrem Schmerz Raum zu geben, und sie nicht aufzufordern, endlich wieder „normal” zu werden. Man braucht viel Kraft, um Gewalt – Strukturen, die geheim und machtvoll agieren, zu durchbrechen. Das kann man am besten mit jemand anderem zusammen, darum sollte Menschen, die so viel Leid erfahren haben, eine Therapie machen. Damit ich noch jemand habe, der mich hält.
Das Problem bei der Identifikation mit dem Täter ist ja, dass es dazu führt, dass man bestimmte Dinge an sich selbst ablehnt. Dass man sich Vorwürfe macht: Ich war ja auch schlecht und habe Fehler gemacht. Ich habe das zugelassen, mich nicht gewehrt, ich bin selbst schuld, wenn ich hier Opfer geworden bin. Das Dilemma ist, dass wir natürlich Fehler gemacht haben, bestimmte Situationen nicht richtig eingeschätzt haben, dass Papa Recht hatte – um auf die Tennisspielerin zurück zu kommen – wenn er ärgerlich ist über meine Leistung. Vielleicht habe ich selbst gesehen und erlebt, dass ich an diesem Tag nicht so gut war wie sonst – aber Fehler gehören zum Menschsein dazu wie Hunger und Durst.
Dafür darf ich nicht bestraft werden, in keiner Form. Nie.
Solange wir in einer Gesellschaft leben, die ein Fehlervermeidungssystem als Hauptziel ihrer ethischen Grundsätze aufrechterhält, werden Menschen, die Opfer geworden sind, es auch weiterhin schwer haben, nicht in diesem gedanklichen Dilemma zu verschwinden. In der Therapie wird versucht, diesen Kreislauf der Selbstgeißelung zu durchbrechen, ein anderes Selbstgefühl zu entwickeln, damit die Menschen um sich selbst trauern können.

Vukovic: Danke für das Interview, Frau Flemming!

Esther Flemming ist Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Als Geschäftsführerin der Wabe Akazia gGmbH in Aachen gründete sie mehrere Wohneinrichtungen für Kinder aus sozial schwachen Familien, mit Ess-Störungen, Depressionen oder in Co-Abhängigkeitserkrankungen. Wabe e.V. unterstützt überdies Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten: Haftentlassene, Wohnungslose, Langzeitarbeitslose und behinderte Menschen finden in Beratungsstellen, Wohneinrichtungen und Arbeitsprojekten die Hilfen, die sie bei der (Re-) Integration in die Gesellschaft brauchen.

Als gemeinnütziger Verein ist sie auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Spenden können Sie für die Projekte hier: LINK zur Spendenseite.

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